
Ein erster Abriss
Ziemlich direkt am Anfang seines Essays Fortschritt schreibt Theodor W. Adorno, dass ebendieser Begriff, nach dem der Essay benannt ist, mehr als andere, gerade mit der Spezifikation dessen, was nun genau damit gemeint sei, etwa was nun überhaupt fortschreite und was nicht, zergehe. Der Begriff flieht seiner Definition und je weiter die Suche danach oder die versuchte Definition fortschreitet, wird die Erklärung gleichzeitig komplexer und doch ungenauer, flüssiger; wie bereits gesagt, der Begriff zergeht.
Es ist wohl vergleichsweise simpel, aufzuzeigen, dass Adorno damit recht behielt. Immerhin kann nur von «Fortschritt» gesprochen werden, in Relation zu bestimmten Dingen; so wie ein Punkt im Raum (sofern wir in der euklidischen Geometrie bleiben), als Negation des Raumes durch diesen immanenten Widerspruch immer zu einer Linie tendiert (denn ein Punkt ist räumlich und unräumlich zugleich), benötigt es, um von «Fortschritt» überhaupt zu sprechen einen Anfangs- oder Schlusspunkt, der wiederum ihr Gegenteil vorausetzt (während der jeweilige weniger genau definiert sein muss). Denn ein Fort-Schreiten von etwas ist ein Schreiten entgegen etwas anderes, mensch schreitet (fort) von x zu y, von a nach b: Ergo «Fortschritt» benötigt zwei Punkte. Doch das ist es gewiss nicht, was Adorno mit «zergeht» zu sagen versuchte. Denn zahlreiche Begriffe sind erst zu begreifen durch andere Referenzen in der symbolischen Welt, so beispielsweise auch «Kritik». Viel eher ging es darum, dass es einerseits nicht bei nur zwei Punkten bleibt, die eine Linie bilden, stattdessen wird eine viel kompliziertere Formel daraus, welche plötzlich an der Tafel des Saals steht, wenn mensch kurz einige Sekunden nicht nach vorne schaute. Andererseits ging es Adorno auch darum, aufzuzeigen, dass Fortschritt nicht gleich Fortschritt ist oder eher, dass es bisher nie einen Fortschritt des Ganzen (und für das Ganze?) gegeben hat; Fortschritt ist immer partikular und exkludierend, ausschliessend. Um das etwas zu verdeutschen: Es gab einen Fortschritt von der Steinschleuder zur Atombombe, aber keinen von der «Barbarei» zur «Demokratie».
Damit scheint der Begriff des «Fortschritts», wohl zumindest für Adorno, meistens ziemlich leer zu sein, oder eher gar eine schreckliche und viel zu oft missbrauchte Worthülse, wie beispielsweise auch «die Natur» eine darstellt. Eine scheinbar programmierte und absichtliche Leere, die erst das jeweilige Publikum im wiederholten Dialog aufzufüllen hat (so wird Publikum zu sein, einfach noch aufwendiger, ja fast schon zur Arbeit!). Als Hülse ist der Begriff des «Fortschritts» also ein Gefäss, das irgendwie mit irgendwas gefüllt werden muss (mit was auch immer, grundsätzlich ist alles erlaubt, von Utopien bis zu menschlichen Abfällen und Fäkalien). Aber es ist ebenso ein Gefäss aus welchem mensch «trinken» oder «essen» kann (oder gar muss?) oder auch anderweitig zur Aufnahme dient.
Dabei ist aber auch zu erwähnen, dass bereits jeweilige Kontext, in dem «Fortschritt» verwendet wird, wie so oft, die Bedeutung des Begriffs stark eingrenzen kann; so ist die Bedeutung von «Fortschritt» schon um einiges klarer, oder mindestens weniger offen, wenn mensch sagt, sie mache Fortschritt bei der Arbeit, im Studium, in der Therapie, in einem Videospiel, im Sport oder beim Schreiben eines Essays. Hier sind also die definierten Punkte, welche es benötigt um von einem Fort-Schreiten zu sprechen, vom Kontext zumindest ansatzweise gegeben oder angedeutet. Was aber, wenn eine Politiker*in oder gar eine Philosoph*in von «Fortschritt» spricht? Oder was ist mit «Fortschritt» im Bereich der Technologie, der Geschichte oder weiteren spezifischen Disziplinen gemeint? Dies sind allesamt Sphären, in denen die Bedeutung schon sehr stark abstrakt und schwieriger greifbar sein kann und der Kontext kaum eine Spezifizierung der Punkte offeriert. Dahingehend wird es auch unmöglich sein, jegliche Deutungen kurz aufzulisten oder gar zusammenzufassen, ohne zu viel aussen vor zu lassen. Das ganze Prozedere wird nur umso komplizierter, sind doch diese Sphären (Technologie, Geschichte, Gesellschaft usw. usf.) dermassen mühselig miteinander vernetzt, verknüpft und verknotet, sodass auch der kleinste Hoffnungsschimmer erlischt, egal wie naiv (oder doch optimistisch?) mensch sein mag, diese Sphären jemals wirklich trennen zu können. Doch allzu gerne meint mensch, dem sei nicht so, gerade wenn es um Technologie geht. Diese sei doch ein reines Mittel zum Zweck und schwebe somit in einer Art neutralem Reich, auf einer Metaebene, über uns, über der Gesellschaft. Ein naheliegendes Beispiel dafür wäre sicher das Messer: Es kann beispielsweise der Zubereitung von Nahrungsmitteln dienen, kann aber auch dazu gebraucht werden, einen anderen Menschen zu ermorden. Selbst wenn es verschiedene Arten von Messern gibt, die alle wiederum verschiedenen Zwecken besser dienlich sind (ein Brotmesser ist kein Käsemesser, ist kein Teppichmesser etc.), scheint doch das Messer einigermassen von der Person abhängig zu sein, die es benützt. Bei einfachen Werkzeugen, wie das Messer oder auch der Hammer welche sind, mag das vielleicht mehr oder weniger zutreffen, immerhin kann mensch auch mit einem Hammer philosophieren, doch bereits diese Werkzeuge äussern gewissermassen ein Verlangen gegenüber dem Menschen. Sie möchten und können nur auf ihre Art «korrekt» und «effizient» benutzt werden. (Es ist sicherlich schwierig mit einem Hammer Brot zu schneiden oder mit einem Messer Bretter zu nageln.) Sprich: Die Technologie bedarf einer spezifischen Nutzung, einer eigenen Technik, die wiederum je nachdem einen kleineren oder grösseren Spielraum besitzt, der es der Technologie erlaubt, mehrere Zwecke zu erfüllen, wenn auch eher schlecht als recht. In der Industrienorm wäre der vorgesehene Spielraum die sogenannte «Zweckbestimmung», die so auch spezifiziert wird. Diese Technik wird schliesslich der Gesellschaft also grausam aufgezwungen und die Individuen haben sich zu unterwerfen. Der «Weggefährte» von Karl Marx, Friedrich Engels beschrieb diesen Umstand Ende des 19. Jahrhunderts in seinem kurzen Text Von der Autorität. Selbst wenn es darin ausschliesslich um «grosse Maschinen» und «Automaten» und nicht um Messer geht, hatte er doch recht behalten. Doch diese Autorität in der modernen Grossindustrie abschaffen wollen, bedeute die Industrie an sich abschaffen, so Engels. Quasi «die Dampfspinnerei vernichten, um zum Spinnrad zurückzukehren» (hier kann mensch schön sehen, wie vernetzt der Begriff des «Fortschritts» ist!). Dies würde schliesslich bedeuten, die Massen wieder der Hungersnot, dem Mangel des Spinnrads zu unterwerfen. Was macht Engels hier? Gewissermassen versucht er die notwendigen Punkte des Fort-Schreitens zu definieren (so gut oder es eben geht), aber negativ, also durch ein reines Ausschlussverfahren: Er zeigt uns, was schon einmal sicher kein «Fortschritt», keine Befreiung wäre, nämlich die Rückkehr zum Spinnrad.
Die Frage bleibt hier aber, ob sich die Technik, die (mindestens in dem Moment ihrer Anwendung, wenn nicht gar darüber hinaus) selbst zum Subjekt wird und nicht aufgezwungen wird, sondern sich selbst aufzwingt und so auch schliesslich zum Selbstzweck wird und gar keinen äusseren Antrieb (in Form der Kapitalist*innen) mehr benötigt. Engels impliziert das bereits, in dem er die Autorität der Automaten mit derjenigen eines Fabrikherren vergleicht. Dennoch sei die Autorität der Maschine derjenigen einer Kapitalist*in vorzuziehen; nur schon da die der Kapitalist*in die andere sowieso beinhaltet. Zwar ignoriert Engels hier, dass selbst das Spinnrad weiterhin eine Autorität gegenüber dem Menschen ausüben würde, wenn auch nicht auf die gleiche Art und Weise und dennoch finde ich, trifft er hier so ziemlich des Pudels Kern. «Das Spinnrad» zwingt nämlich der Gesellschaft einen beinahe konstanten Mangel auf und bedarf obendrein noch einer spezifischen Technik. Somit bleibt aber die Autorität, also die Technik die die Technologie aufzwingt eine übergeschichtliche Konstante. Allerdings nur in einem gewissen Masse, da erst im «Zeitalter der Atombombe» dem Mangel endlich ein Zustand visiert werden könne, so Adorno, in dem Gewalt (und somit auch Mangel) überhaupt verschwände. Also ein Zustand, in welchem die Autorität mindestens der grossen Maschinen und Automaten sich auch nicht mehr in derselben schrecklichen Unterwerfung äussert.
Somit soll es nicht einfach darum gehen, die moderne Technologie insgesamt zu verdammen, um sich dann auf ein archaisches Idealbild des Menschen zu beziehen (welches im Übrigen auch noch zuerst wiederholt aufs Neue erfunden werden muss!), wie beispielsweise der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon das machte. «Anti-zivilisatorische» Aufschreie, Natur-Fetischismus oder Ähnliches muss ebenso abgelehnt werden, wie ein unreflektierter, libidinöser Technologie-Kult, der um irgendeinen arbiträren Begriff des «Fortschritts» kreist, der allerdings keiner ist.
16/07/2022