Freuds Entschuldigungen

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In seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur beginnt Sigmund Freud jedes Kapitel, mit Ausnahme des fünften Kapitels, mit einer Entschuldigung, oder zumindest in einem apologetischen Ton. Um kurz zu veranschaulichen, was hier gemeint ist, muss mensch sich das ungefähr so vorstellen, wie es sehr oft in der Sphäre der gesprochenen Sprache zu beobachten ist: Nämlich wenn Personen mit einem offensichtlich geringen Selbstwertgefühl sich gezwungen sieht, sich selber ständig (meist zu Beginn einer Aussage) zu relativieren und schon im Voraus zu kritisieren, bevor eine andere Person überhaupt die Chance dazu hatte. Im Übrigen ist dieses Phänomen in dieser beschriebenen Art und Weise tendenziell eher eine Eigenschaft weiblich sozialisierter Personen und stellt dahingehend internalisierte Misogynie dar, die sich bestrafend auf sich selber bezieht. Aber zurück zu Freud. Freud machte zwar ähnliche Bemerkungen in Jenseits des Lustprinzips, in dem er meinte, vieles, was er dort schreibe sei von äusserst spekulativer Natur; aber ist, so nehme ich es hier einmal an (immerhin habe ich bei Weitem nicht alles von Freud gelesen), Freud doch nie so dermassen penetrant mit seinen sich wiederholenden (!) Entschuldigungen, wie in Das Unbehagen in der Kultur. Was soll das? Wieso tut er das? Wieso entschuldigt sich Freud gerade in diesem Werk zu Beginn fast aller Kapitel?

Vielleicht ist hier ein kurzer Einschub dienlich. Louis Althusser meinte immer wieder, wir seien alle als Individuen bereits Subjekte. Aber von der Ideologie subjektivierte Subjekte. Subjekt muss hier anders verstanden werden, nicht als erkennende oder vereinende Instanz, sondern als doppeldeutiges Wesen, dass durch das sujet impliziert wird. Einerseits als handelndes Wesen, aber ebenso und vor allem (!) als unterworfenes Wesen. Ergo wir sind allesamt der Ideologie unterworfen und untergeordnet, wir können der Ideologie nicht entkommen. Ein Umstand, mit welchem auch John Nada im Film They Live stark zu kämpfen hatte. Im Grunde stellt Althussers Ideologieauffassung eine Fortsetzung davon dar, was Francis Bacon mit seiner Idolenlehre bereits im 17. Jahrhundert beschrieb. Ich bin mir der Formulierung nicht ganz sicher, aber Slavoj Žižek bezieht sich klar auf Althusser, wenn er immer wieder betont, dass eben jene Person, die proklamiert, sie sei ohne beziehungsweise habe keine Ideologie, auch genau die Person ist, die am stärksten in der Ideologie gefangen ist.

Gerade durch diese Geste gelangen wir wieder zurück zu Freud. In Das Unbehagen in der Kultur kommt Freud unter anderem zum Schluss, dass das, was er das «Schuldgefühl» nennt, das «wichtigste Problem der Kulturentwicklung» ist. Was Freud also macht, wenn er sich in diesem Werk immer wieder entschuldigt, muss also im Grunde so gedeutet werden wie Althusser und Žižek, wenn sie über die Ideologie sprechen und schreiben. Denn obschon ihre Begriffe der Kultur beziehungsweise der Ideologie nicht identisch sind (sicher sind sie aber vergeichbar!), meinen sie im Grunde dasselbe: Denn selbst darüber zu sprechen, dass wir nicht vom Schuldgefühl oder der Unterwerfung der Ideologie entkommen können, dies zu erkennen und es zu wissen, entbindet uns nicht, befreit uns nicht von der Ideologie beziehungsweise der Kultur. (Auch wenn sich inzwischen diese Überzeugung in zu vielen Kreisen durchgesetzt hat und quasi als Umkehrung von Žižeks Kommentar betrachtet werden muss.) Freud möchte dies uns Leser*innen deutlich machen: Auch der (philosophierende) Arzt (der grosse Freud selbst!), der weiss (gar entdeckt hat!), dass das Schuldgefühl das wichtigste Problem der Kulturentwicklung ist, entkommt diesem Schuldgefühl nicht. Auch Freud ist keine Art Held ausserhalb der Kultur, der diese betrachtet. Schliesslich findet seine Kulturkritik dennoch innerhalb der Kultur statt, in welcher das Schuldgefühl waltet und herrscht. Und genauso erhält sich doch die Kultur (und ebenso die Ideologie): Sie zu kritisieren, produziert in uns, die von ihr subjektiviert wurden, ein Schuldgefühl. Freuds wiederholende und unter anderem dahingehend unheimliche Entschuldigungen müssen somit als eine performative Geste betrachtet und gedeutet werden; als einen symbolischen Zeigefinger, eine analytische Intervention.

6/06/2022