
Fragmente zur Psychoanalyse, Philosophie und Therapie
Ich höre Stimmen. Ich bin nicht eins. Mich im Spiegel anzuschauen, gibt mir aber genau diese Illusion. Dich anzuschauen, gibt mir die Illusion, Du seist ebenfalls eins. Doch denken, lesen, in meinem Kopf, ohne es «laut» auszusprechen beziehungsweise die Lippen zu bewegen, das Alphabet aufzusagen, beweist mir doch etwas anderes - wer oder was «spricht» hier? Wer oder was träumt in mir? Medizin und Wissenschaften nehmen ebenfalls einfach an, wir als Individuen seien eins und lassen sich somit von der Wortherkunft beirren. «Individuum» ist eine Lehnübersetzung des griechischen Wortes átomos (was wiederum noch Verwendung findet) wenn wir von den Atomen sprechen; Átomos bedeutet das «Unteilbare» und wurde in der Philosophie von Demokrit als der «Urstoff», aus welchem die Welt bestehe, beschrieben. Später waren es Epikur und der römische Lukrez, welche diese Atomlehre aufgriffen. Besonders der poetische Epikureismus von Lukrez in De rerum natura überflügelte hierbei Jahrhunderte der Naturwissenschaften und das auch noch in Form eines Gedichtes; also einer Form, die der zutiefst unkünstlerisch bis gar antikünstlerischen Wissenschaften längst abhanden gekommen ist. Doch das, was wir als Atome kennen, ist, nicht unteilbar. Und Individuen? Wieso sollten Individuen dann also unteilbar sein? Die Furcht und der Ekel vor «Krankheiten» hindert uns daran, uns wirklich und nicht narzisstisch mit den zahlreichen Individuen zu identifizieren, die allgemein bekannt und anerkannt nicht eins sind. Dabei zeigen diese doch nur weiter das Potential der Spaltung des Individuums auf. Die Widerstände gegen den eigentlich offensichtlichen Umstand der Spaltung sind immens und bei gewissen Personen gar unüberwindbar. Es scheint so offensichtlich wie trautig zu sein: Nicht alle Menschen sind therapierbar.
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«Alternative» (gerne auch als «altertümliche» beworben) Praktiken -und Methoden sind hier nur Ergänzungen der restlichen Medizin, die parasitäre Kehrseite (der höchstens relativ weniger parasitären Sonnenseite), die als «menschlichere» Lösung, «Alternative» gegenüber der unmenschlichen Medizin und Praxis der Wissenschaften und Pharmaindustrie. Diese angebliche «Alternative» tut so, als ob ihre Ästhetik sie weniger unmenschlich machen würde, was sie somit nicht weniger verhängnisvoll pathologisch macht: Ästhetik täuscht nicht über den Faschismus hinweg, eigentlich sollte das seit Benjamin und Stalin (bei dieser Überschneidung erlaubte sich die Geschichte wohl einen sehr ironischen Scherz), bekannt sein. Aber Offenheit gegenüber Philosophie ist so selten, wie es die weise Philosophie selbst ist. «Alternativen» dahingehend als Kompensation zu betrachten, würde ihnen zu viel zu gestehen und sie somit gänzlich überschätzen.
All dem kann und wird erwidert werden, dass die Medizin doch nur Krankheiten heile, Leute gesund macht, am Leben hält usw. usf. Diese eklatante Naivität akzeptiert dabei einfach, was als «krank» und «gesund» verstanden wird; egal welches Erklärungsmodell, dass dabei akzeptiert wird. Weiter wird auch hier die Einigkeit des Individuums angenommen beziehungsweise als der «gute» und «gesunde» Zustand betrachtet. Innere Uneinigkeiten der Wissenschaften, der Medizin (aller Variationen) dienen hierbei lediglich der Vertröstung einfältiger Geister, trotz Subalternitäten (beispielsweise innerhalb der Psychoanalyse). (Die Lage ist komplex und wenn es so scheint, als ob ich sie zu vereinfachen versuche, so nur der Herablassung wegen.) Die Gretchenfrage ist somit eine, die schon um einiges älter ist, als die Formulierung Gretchenfrage selber; denn was macht uns «krank»? Als ob wir, sofern wir die Frage selber formulieren können, nicht schon genau «krank» sind. Doch genau diese Frage behandeln auch Darian Leader und David Corfield in ihrem Buch, welches auch diese Frage als Titel trägt (Why Do People Get Ill?). Darin wiederholen sie in sokratischer Manier diese Frage durchgehend bis zum Schluss, ohne die Frage einer wirklichen Antwort zu würdigen. Hinter jedem Symptom steckt eine Biographie, eine Lebens -und Entwicklungsgeschichte, die nicht homogen verläuft oder einfach reduzierbar ist. Der Einfluss äusserer Faktoren ist durchaus nicht zu vernachlässigen, kann sogar ein integraler Bestandteil der Ursache sein, somit können auch die jeweiligen Therapien oder vorbeugende Massnahmen ihren Zweck auch erfüllen können (wenn auch aus verschiedensten Gründen, da wiederum auch die jeweilige Therapie im Kontext der jeweiligen Lebensgeschichte betrachtet werden muss, was je nach Therapie mehr oder weniger einfach sein kann). Die Reduktion auf «Biologie», Genetik, Bakterien und Viren, Ernährung und Lebensstil, die wohl auf immer mystisch bleibende Ursache «Stress» oder sonstigen «Einflüssen» (von Aussen, wie beispielsweise der Sterne) etc. sind höchstens Behauptungen die verzweifelt mit Statistiken untermauert werden, obschon statistisch gesehen, die meisten Statistiken selber mehr Sand als Stein sind. Leader und Corfield stellen hierbei das inzwischen verpönte Handwerk der qualitativen Forschung in der Medizin der Popularisierung durch Statistiken entgegen. Auch «alternative Heilpraktiken» bedienen sich schlussendlich keiner anderen Methode (obschon sie fähiger sind, qualitative in quantitative Praktiken umzuformulieren). So oder so, wird bei der Therapie die Sprache die die Patient*in und ihr Körper, ihre Symptome (sichtbare wie nicht sichtbare, offensichtliche wie verschleierte) spricht, vernachlässigt. Ein Dialog (oder gegebenenfalls ein Monolog der Symptome) wird unterbunden, stattdessen werden sie in unterschiedliche (aber gerade nicht voneinander getrennte) Weltbilder gepresst, im Versuch etwas unabhängig von Therapie und zu Therapierendem zu erklären und ich wiederhole: Dessen sind die «alternativen Heilpraktiken» nicht weniger schuldig, nur weil sie sich gerne als «menschlicher» darstellen, was für sie nicht mehr bedeutet, als farbenfroher und anal-autoritärer (gerne als «Skepsis» und «Kritik» dargestellt) gegenüber lebensrettenden Praktiken der restlichen Medizin (beispielsweise Impfungen) zu sein. Gleiches gilt dann auch für den Anspruch an eine «Ganzheitlichkeit», die auch nur eine Annahme, wenn nicht gar ein weiteres Weltbild darstellt, die ebensowenig versucht in einen Dialog mit dem Symptom zu treten.
Den Dialog zu verweigern, reproduziert das kaputte zwischenmenschliche Verhältnis, das wir zueinander haben und somit stehen sich Behandelnde und Zu-Behandelnde entfremdet gegenüber, nicht mehr als die eigentlich gespaltenen Individuen, sondern als stummes Symptom unter dem Mikroskop einerseits und möglichst rasche und einfache (oder dann farbige und esoterische) Therapie andererseits. Hier sind die beiden Instanzen jedoch auch nicht neutral: Beispielsweise haben Zu-Behandelne gewisse Erwartungen gegenüber Therapie und den Behandelnden. Die Überzeugung einer strikten (und einfachen) Trennung von Körper und Geist (oder «Bewusstsein») dient hier für Behandelne und Zu-Behandelnde einen blind reproduzierten Abwehrmechanismus.
Das Verweigern des Dialoges reproduziert gleichzeitig die Verdrängung dessen, was die Psychoanalyse zur Psychoanalyse macht: Des Unbewussten. Die Institution der Psychologie (Psychiatrie) glaubt nicht an die Existenz des Unbewussten. Etwas was sie auch mehr als nur klarstellen möchte, versucht sie doch allen Studierenden der Psychologie Statistik ein- und Sigmund Freud auszutreiben, ja diesen und mit ihm die Psychoanalyse zu verteufeln. (Während er für die «alternative Heilpraktik» wohl doch zu europäisch und wissenschaftlich ist.) Das Unbewusste ist aber auch einfach unheimlich: Wissenschaften ignorieren es, weil es nicht zu erklären ist (dasselbe Problem haben sie eigentlich auch mit dem «Bewusstsein», welches sie nur beschreiben können, aber egal). Dabei zeigen Leader und Corfield in ihrem Buch wiederholt, wie essentiell das Berücksichtigen des Unbewussten bei der Behandlung ist; sogar dermassen integral, dass eine Therapie den Zustand einer Patient*in gar verschlimmern kann. Weiter besteht die Möglichkeit, dass durch die Betrachtung eines Symptoms in ihrem Zusammenhang eines gespaltenen Individuums, mit eigener Lebens- und Entwicklungsgeschichte, Patient*innen weniger unmenschlich zu sehen. Mit der Psychoanalyse lässt sich allerdings wenig Profit machen; um einiges weniger, als mit Drogen oder aber «alternativen» Methoden und verschiedensten angeblich «kritischen» Mitmenschen, die den schlimmsten Verschwörungstheorien verfallen sind; weniger als mit einem kaputten Gesundheitssystem, dass auch noch ständig weiter bis zur Privatisierung ausgehölt wird; weniger als mit der Kriminalisierung gewisser Drogen: Das Wohl des Kapitals ist Gesetz.
Das Kapital und die Kultur vor ihr hat die einzigartigen Klumpen Fleisch, mit heterogenen, vielfältigen und diversen Trieben homogenisiert und kultiviert bis in die tiefste Genetik hinein. «Der Mensch» ist eine Horror-Gestalt, eine Erfindung auf welche beide verfeindeten Essentialismen, der biologische Reduktionismus und der soziale Konstruktivismus, gleichermassen beruhen.
Freuds «spekulative» darwinistische Biologie, welche gerade in Jenseits des Lustprinzips zu finden ist, hat weder mit dem einen noch dem anderen Essentialismus etwas zu tun, sondern sie verweist gerade auf eine Verfallsgeschichte von der unmenschlich-menschlichen Diversität zur Kultur von Kulturmenschen.
Die Natur selbst ist nichts als Geschichte.
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Akzeptiert eure Spaltung! Akzeptiert das Unbewusste! Das Unbewusste zu akzeptieren, bedeutet auf dem Weg zur Selbstakzeptanz zu sein: Denn der einzige Weg drumherum ist die Pathologie.
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Logik und Positivismus, die Philosophie des mathematischen (Nicht-)«Denkens» haben eine schreckliche Therapie, die alleine den infizierten und angeblich einheitlichen und homogenen «Wissenschaften» glauben schenken, geboren. Diese infizierten Wissenschaften existieren mehr in den Köpfen der Philosoph*innen, als in den Wissenschaften selbst.
Die Quacksalberei versucht auf einem verblendeten Positivismus wiederum dasselbe aber anders zu machen und «zaubert» damit die wohl einheitlichste Form, ja die Perfektion des bürgerlichen Individuums hervor unter dem Begriff der «Ganzheit». Diese «Ganzheit» existiert vor allem in den Köpfen der Philosoph*innen, als irgendwo sonst.
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Vor uns haben wir zwei Wege, zwei Ansätze, die beide ebenso plausibel wie katastrophal erscheinen:
1. Scheinbar darf die Therapie nicht alleine den Wissenschaften und der Quacksalberei aller Art vorbehalten bleiben, sondern muss zwangsläufig die Philosophie wie auch die aus den Wissenschaften hinausgedrängten Psychoanalyse beinhalten, um weniger menschlich-unmenschlich zu sein: Die Philosophie rechtfertigt sich und ihre Expansion in inzwischen fremde Bereiche. Das ist kein besserer, aber durchaus ein weniger schlechter Ansatz und das obwohl die Philosophie alles andere als unschuldig ist und die Psychoanalyse durchaus eine gute Tracht Prügel verdient hätte.
2. Ein (zumindest temporärer) kompletter Rückzug dessen was sich Philosophie schimpft aus den Wissenschaften. Eine jede Intervention seitens der Philosophie endete historisch stets in der Ignoranz gegenüber dem Unbewussten und gar in den menschlich-unmenschlichen Grausamkeiten des vergangenen wie auch gegenwärtigen Jahrhunderts. Das ist kein besserer, aber durchaus ein weniger schlechter Ansatz und das obwohl die Wissenschaften alles andere als unschuldig sind und durchaus eine gute Tracht Prügel verdient hätten.
Keine der beiden Ansätze kann empfohlen werden.
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Sicher ist nur, dass wir so oder so zu leiden haben.
«Aber dass wir an ihnen leiden, ist kein Beweis gegen die Richtigkeit des gewählten Heilverfahrens.»
19/11/2022