Notizen aus der Provinz

Zwei Skizzen aus der Provinz von der Provinz für die Provinz

Als sich die Städte der Schweiz langsam unabhängig(er) machen konnten von ihren Flüssen und somit eine stärkere Zentralisierung der Industrie stattfand, war es Sankt Gallen, das für Jahrzehnte zusammen mit Zürich die Fabrik der Deutschschweiz stellten. Hochindustrialisiert mit vergleichsweise gewaltigen Strömen an migrierenden Arbeiter*innen, so dass Sankt Gallen, diese Kleinstadt der ansonsten schon provinziellen und «barbarischen» Eidgenossenschaft, sogar von Friedrich Engels einmal beiläufig erwähnt wird. Die Hochöfen der Stadt Zürich verheizten dermassen viele Arbeitenden, dass die einstige Stadt der Reformation, die Stadt Zwinglis zum konfliktreichen Schmelztiegel der römisch-katholischen und der reformierten Kirche wurde, wodurch eigene katholische Parteien und Gewerkschaften entstanden. Viele Jahrzehnte später wurde Sankt Gallen neben Zürich das Kleinod der neoliberalen Finanz-Intelligenz; wo anders liessen diese kulturlosen Patrizier ihre Kader ausbilden, formen und erziehen? Auf dem fruchtbaren Boden alter und reicher Geschlechter bildete sich in Zürich schnell neben und mit der bisherigen Oligarchie eine junge Bankenaristokratie, geboren aus den «Freiheiten» der Reformation. Bern war die Kompromiss-Stadt, die zum Sitz der Räten auserwählt wurde und somit zur unpolitischen Hochburg der Politik auserkoren wurde, wodurch ein junger aber besonders wohlgenährter Filz entstand. Basel wiederum hatte durch die Nähe zum Ausland und den Rhein eine spezielle Kaste an Kaufleuten, an Parasiten gezüchtet. Später kamen Chemiekonzerne, die ihre Forschung vor allem durch nicht vorhandenes Gesetz zum Urheberrecht zusammen stahlen, bis sie gross genug waren, selber Patente am Laufband zu produzieren und so ganze Kontinente zu unterjochen. Eine Apparatschaft die ihresgleichen sucht, wenn es um Unmenschlichkeit geht (selbst in der Schweiz!) und nur mit Zug und vielleicht Genf konkurrieren kann, geschützt durch Staat, Marketing und neutralen Parteizeitungen mit Sitz in Zürich. Kein Wunder entstand gerade in Basel eine spezifische Schule an Kleingeistern der Ökonomie, welcher es gar noch mehr als anderen an Kreativität, deshalb aber nicht an Kalkül und Verachtung, mangelt. Weiter im Herzen der Schweiz und selber wiederum das Herz der Zentralschweiz, wirtschaftlich und seit einiger Zeit auch erzieherisch mit einer eigenen, wachsenden Universität, Hotspot für Tourist*innen aus aller Welt, verwaltete Wandernde und das heimische Militär: Luzern. Lange Zeit wohl der grösste Exporteur von kämpfendem Fleisch nach ganz Europa und somit auch eine der wenigen Städte der Schweiz, die aus einem grossen Teil durch «eigenes» Blut erbaut wurde, zumindest die Altstadt; taktischer Hauptort der Reaktion, vor und nach dem Bürgerkrieg, der heute auf ganz anderen Ebenen geführt wird und dieses Mal allerdings zusammen mit Zürich und Basel; nichts stellt diese Entwicklung besser dar, als das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik der Universität. In keiner anderen Stadt der (Deutsch-)Schweiz herrscht dermassen viel Monarchie, wessen Schatten nicht nur durch das Löwendenkmal geworfen wird, wo immerhin der Widerstand der schweizer Söldner, die den König, Monarchie und Feudalwesen gegen die Revolutionäre und Plebejer verteidigten, als «Heldenkampf» beschrieben wird. Eine niederträchtige Abscheulichkeit, die, wie hätte es anders sein können, im Süden der USA, im Namen der Konföderation kopiert wurde. Finanziert wurde das Luzerner Schmuckstück natürlich auch mit grosszügigen Spenden aus den siegreichen Königreichen der Restauration.

Die anti-aristokratische Oligarchie der Schweiz, die ihren jungen Nationalstaat gerade auf dem Befreiungskampf gegen die «fremde» Monarchie aufbaute, aber dann doch gar nicht anders kann, als mit der Monarchie liebzuäugeln. Die Schweiz war nie Heimat von Wilhelm Tell sondern nur designierter Kurort und Rückzugspunkt gescheiterter Könige, wo sie ihre eigene Niederlage fetischisieren können, wie es auch die Schweiz selber lernte zu machen, alsbald ihr Söldnerwesen zu bröckeln begann.

Allesamt konkurrieren diese Städte darum, welche nun am schlimmsten der ungerechtfertigen Selbstverliebtheit verfällt, obschon von Anfang an klar ist, welche Stadt die Siegerin ist. Was ein schmackhafter Narzissmus der kleinen Unterschiede diese Vernarrtheit der Städte-Konkurrenz ist, die ihre Höhepunkte im Fussball und kleinbürgerlichen-linken Kreisen erreicht. Die Schweiz, ein Land der Widersprüche, wie jedes andere auch.

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Die Schweiz, ein Land, das nicht anerkennen möchte, was sie selber schon immer war, sich dann aber noch enorm beschleunigen sollte, möglicherweise besteht aber gerade in dieser Abwehr, dieser Weigerung die Fortsetzung dessen, was sie ist, da damit verhindert wird, was sie sein könnte. Mit Letzterem wäre der Schweiz jedoch vielleicht zu viel zugesprochen, diesem versumpften und zu tiefst verwalteten und unnötig militarisiertem Fleckchen Erde, mit ihrer zwanghaften und höchst spiessbürgerlichen Bevölkerung, die doch ernsthaft der Meinung ist, sie könnte weltgeschichtliche Ereignisse im Nachhinein kontrollieren und steuern. Problematisch ist hierbei nur, dass die Welt nicht an der Grenze des Landes endet, sondern genau dort beginnt, wo das Ausland anfängt.

Doch auch das hiesige Ausland muss kontrolliert werden: Die Rechte von «Ausländer*innen» in der Schweiz sind mehr als nur begrenzt; sie werden von allen Ebenen der Bürokratie gegeängelt, überwacht und ignoriert gleichzeitig, brutal verschachtelt und je nach Verschachtelung ausgebeutet, wenn sie zu wenig Geld auf dem Konto oder aber sich schuldig machen unter schrecklichsten Bedingungen zu arbeiten abgeschoben, ohne wenn und aber, sie dürfen weder wählen noch abstimmen, müssen aber Steuern zahlen um ihren eigenen Unterdrückungsapparat aufrecht zu erhalten (wodurch die Polizei eine der wenigen Instanzen ist, die sogar dazu gemacht ist, die Hand, die sie füttert, zu beissen), werden je nach Aussehen, Religion, Identität etc. noch weiter unterdrückt usw. usf. Doch trotz dieses Umstandes ist den lieben Ausländer*innen etwas in der Schweiz vergütet, was keine Schweizer*in je machen darf: Nämlich zu denken.

Es war Nietzsche der in Basel Professor für Philologie war, vor dem Löwendenkmal, dem Denkmal des Scheiterns seinen einzigen und wohl bewusst zum Scheitern verurteilten Heiratsantrag machte, sich nahe den Bergen verschanzte und Albert Einstein, ein weiterer «Heimatloser», wie die Schweizer Behörden so verachtend formulierten, der an der heutigen ETH in Zürich studierte. Weiter Wladimir Lenin, der wiederholt exilierte Revolutionär der erst in der Schweiz wahrhaft in den Genuss einer vertieften Hegel-Lektüre kam, der heute weithin (zu) wenig beachtete Philosoph Alfred Sohn-Rethel, Paul K. Feyerabend der an der ETH lehrte, die beiden Gründer der Universität von Muri, die grossen Dadaist*innen und unzählige mehr und das bis heute; kaum betraten sie die Schweiz, plötzlich wurde endlich wieder einmal gedacht in dieser Provinz!

Die angeblich humanitäre Tradition der Schweiz besteht nicht darin, Flüchtende aufzunehmen und Asyl zu gewehren, etwas was höchst selektiv gemacht wurde, besonders wenn es sich passend politisch ausbeuten liess, wie beispielsweise mit Ungarn und Tibet oder jetzt dem «zweiten Ungarn», sondern darin die Ausgegrenzten in der Schweiz, diese von «Schweizer» «Hand» gemachten Nicht-Schweizer und ihr Denken aufzufressen oder dann anderweitig auszubeuten und zu verheizen, wenn auch nur als Fassadenpflege. Natürlich gibt es dann auch Nicht-Schweizer, die mehr Schweizer sind, als Schweizer und mehr Schweizer, die Nicht-Schweizer sind.

Was für eine Welt, in der alle kategorisiert werden können in diese zwei einfachen-nicht-so-einfachen Schachteln! Eine Welt der Schachteln.

Was inzwischen um einiges bekannter und erforschter ist (Lenin betonte dies in seinem Abschied an die Schweiz bereits vor über 100 Jahren), ist die Tatsache, dass in der Schweiz es meist diese «Fremden» waren, die die grosse und brutale Infrastruktur (den Gotthardtunnel um nur das bekannteste Beispiel zu nennen) aufbauten, die den Löwenanteil der in den Fabriken darbenden darstellten und noch heute in zahlreichen Branchen das schlimmste Los der schlimmsten Arbeiten zu ziehen haben. Doch was machen die Schweizer, die seit einiger Zeit auch Frauen (aber gemäss dem Bundesrat nicht nonbinär!), aber noch nicht lange genug, dass von Schweizerinnen die Rede sein könnte, sein können, in der Schweiz, wenn sie nicht darben und auch nicht denken? Kein Volk von Genuss wie es sie an unseren Grenzen gibt, eher von Jammernden; ewig die Schnauze offen ohne auch nur irgendetwas von Wert zu sagen. Schweigen ist womöglich gerade die Eigenschaft, die das totalitäre und hasserfüllte Jammern der Schweiz zu brechen vermag. Oder anders formuliert: Einfach mal die Schnauze halten.

7/01/2023