
Längst müsste kein Mensch mehr hungern; eine drastische Verringerung der Arbeitszeiten, ja gar die Überwindung der Lohnarbeit an sich wäre bereits möglich. Die objektiven Bedingungen für die Verwirklichung dessen, was Marx wohl Kommunismus genannt hätte, warten, um mich hier einer wahrlich widerwärtigen traditionell-marxistischen Schreibweise zu entlehnen, seit bald 200 Jahren nur darauf, entfaltet zu werden: Kein Mensch müsste mehr darben.
Stattdessen leben wir aber in einer Welt, in welcher im reichsten Land der Geschichte der Menschheit Kinder wieder als reguläre Arbeitskräfte missbraucht werden, während gleichzeitig die Entwicklungen («Fortschritte») in der sogenannten Künstlichen Intelligenz mehr und mehr die Wegrationalisierung «kreativer» Arbeitsplätze ermöglicht.
Nichts als logisch sympathisiert Kapital mehr mit dem was als Künstliche Intelligenz erscheint, als mit den Menschen, ist sie doch selbst kein Mensch, sondern selber künstliche Intelligenz.
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Die Katastrophe die inzwischen herrscht, konfrontiert die gesamte Spezies, wie diese Spezies zahlreichen anderen Spezies bereits ihre Katastrophe brachte: Eine entfremdete Katastrophe, sie tritt uns als nicht-menschlich gegenüber, wie die Waren es tun, die Technik es tut und gar die Menschen selbst (wie auch sich selbst) es tun: Das bürgerliche Ideal der Gleichheit scheint vollendet.
Dies bedeutet allerdings nicht das Ende des Klassenkampfes oder gar der Geschichte. Die Frage bleibt jedoch welches nun das revolutionäre Subjekt ist, in nicht nur nicht-revolutionären Zeiten, sondern in Zeiten in welchen das einst revolutionäre Proletariat längst ihren Weg in die bürgerliche Gesellschaft gefunden hat und selber verbürgerlicht ist: Engels beschrieb es schon 1845 und weder Luxemburg, Liebknecht noch Lenin überlebten die Konfrontation damit - die Konfrontation mit dem «Aufkaufen» des revolutionären Potentials des Proletariats. Die Gesellschaft von heute hat kein Subjekt mehr, geschweige denn ein revolutionäres.
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Das ist ein Aspekt der totalen Katastrophe. Ein anderer ist Feuer. Anders als der Mangel eines Subjekts, benötigt Feuer hier keinerlei Einführung oder Ähnliches. Schon Kant ringte mit dem Feuer und Wittgenstein prophezeite es nach seinem Dienst an der Front. Es bleibt die Hoffnung, dass ein nächstes Ringen, eine weitere Prophezeiung überhaupt möglich sein wird.
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So wie in der antiken Gesellschaft eine Hungersnot mit Spielen ausgeblendet wird, versucht auch die gegenwärtige Gesellschaft, ihre, die totale Katastrophe fassbar zu machen. Die Ohnmacht gegenüber der Katastrophe des 20. Jahrhunderts soll dabei nicht wiederholt werden, was in einem grausam-moralistischen und einem moralisch-grausamen Appell gipfelt: Den einzigen beiden Antworten des Liberalismus.
Einerseits wird im Angesicht der Katastrophe zum Verzicht aufgerufen. Ein verzweifelter Appell aus dem Kloster an das Boudoir: Vom falschen Leben an das ebenfalls falsche Leben.
Der Verzichts-Appell stellt der Versuch dar, die Antwort auf die totale Katastrophe in der privaten Sphäre des Konsums zu finden, als ob das Totale nicht gerade alles Partikulare stetig erwürgt. Was ist das anderes als die einfache Kehrseite des spiessbürgerlichen Verhaltens dem eigenen Garten und der Nachbarschaft gegenüber? Spiessbürgerliches Verhalten in der Dorfgemeinde mit schönen Farben bemalt und dekoriert; Tragödie und Farce in einem, verpackt und eingetütet als Happy Meal, welches unseren immensen Hunger stillen soll.
In einer weniger falschen Gesellschaft würde dies als der Skandal betrachtet werden, der es auch ist.
In der gegenwärtigen Zeit, in welcher kein Mensch mehr hungern müsste und der Hunger aber dennoch herrscht, Stoizismus und Verzicht zu predigen, ist nicht nur zynisch, sondern gar der langweiligste und doch fürchterlichste Hedonismus, nämlich ein Hedonismus der moralischen Selbstbefriedigung im Angesicht der Untat.
Der politisch-moralistische Diskurs der verwalteten Welt begrenzt sich allerdings nur sehr ungern auf den Verzichts-Appell, immerhin implizierte doch die vorzeitliche Excel-Tabelle aus den 1970er-Jahren im Buch The Limits to Growth noch eine weitere ganz praktische Lösung. Eine Lösung, die Malthus schon ganz bescheiden verlangte: Das ist der Entvölkerungs-Appell. Als ob das Problem der unendlichen Zerstörung der Natur schlicht an der Masse der Menschen läge. Probleme der Verteilung und der gegenwärtigen Infrastruktur, die das Kapital für die exponentielle Produktion von Mehrwert erschuf, nicht für das (Weiter-)Leben von Menschen, werden auf die Menschen projiziert und verdinglicht. Aberwitzig wie gerade die schlimmsten Aspekte der entfremdeten Arbeit als Steine auf Prometheus zurückgeworfen werden.
Gerade hier geht der Verzichts-Appell nahtlos hinein in den Entvölkerungs-Appell, der doch immerhin auch im Kern des Ersteren ruht: Und somit gar die einzige Antwort des Liberalismus darstellt.
Beide Appelle entstammen dem Denken des Verwaltens, der Perspektive der Bürokratie und können auf die einfache und doch so drakonischen Forderung, die eine Zahl dort in der Tabelle müsse kleiner sein, reduziert werden. Der Ausgangspunkt des Verwaltens selber tendiert bestenfalls zum Papier, schlimmstenfalls zum Totalitären: Wie Mao einst alle Reaktionäre als Papiertiger beschrieb, so gilt dasselbe auch für die abstrakten Verwaltungsmechanismen.
Die Frage für den Liberalismus ist somit nur, ob wir nun mehr Mönche oder mehr Genozid brauchen: Der Imperativ lautet Kloster oder Lager.
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Die Katastrophe lässt sich nicht in eine Excel-Tabelle pressen, wie auch das Unberechenbare sich nicht in eine Rechnung drücken lässt: Die Katastrophe lässt sich nicht zur nächsten verwaltbaren Krise machen.
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Der sklavische Moralismus erschafft durch seine unterjochende Peitsche, diesen grossen und fetten Zeigefinger, gar ein eigenes und neuartiges Problem, in dem er Genuss in neue Sphären verschiebt: Gerade die bewaffnete, entfremdete Verschwendung erhält somit eine Note des imaginären Genusses. Thanatos und Ares werden als Dionysos errichtet. Dabei handelt es sich jedoch nicht mehr um den freudschen Todestrieb, nicht um ein «dem Abgrund entgegen tanzen», eher eine Art bereits kultivierte und naturalisierte Fetischisierung des Leids, als ob es keines wäre - eine Art verdrängter und narzisstischer Masochismus. Was ein Elend. Als ob Sade, Nietzsche und Dostojewski das nicht schon zu Genüge beschrieben, gezeigt und gelebt haben.
Eine jede Gesellschaft beinhaltet Verschwendung und mit zunehmender Produktion sind Gesellschaften sogar befähigt, sich mehr zu leisten; eine Gesellschaft ohne Verschwendung, eine Gesellschaft, die sich keine Verschwendung erlaubt, ist wiederum nichts als ein Fortschritt zurück in die Barbarei: Der unerlaubte feuchte Traum des Faschismus.
Gleichzeitig ist das gesamte Gerede einer allumfassenden, gar total-herrschenden Konsumgesellschaft, die die «Umwelt» und «Natur» zerstört, nichts als lächerliche Scholastik für die studierte wie unausgebildete Ignoranz und den post-politischen Dilettantismus der gegenwärtigen Diskurse. Dahingehend hätte es niemenschen überraschen sollen, was für eine Instanz die Berechnung des individuellen CO2-Fussabdrucks einführte und popularisierte.
Adorno beschrieb diese Tendenz der Kulturkritik, wie sie heute Gang und Gäbe ist, schon sehr früh, sehr treffend:
«Wann immer Kulturkritik über Materialismus klagt, befördert sie den Glauben, die Sünde sei der Wunsch der Menschen nach Konsumgütern und nicht die Einrichtung des Ganzen, die sie ihnen vorenthält: Sattheit und nicht Hunger.»
Kapitalismus kann nur sein eigenes Bedürfnis der Produktion an Mehrwert befriedigen; dies allerdings auch nur insofern, als das die Befriedigung selber nie stattfindet, sondern auf Ewigkeit verschoben bleibt, wodurch überhaupt noch mehr Mehrwert produziert werden kann. Eine Befriedigung, egal wie kurzweilig diese ist, würde die Produktion an Mehrwert unterbinden.
Wie sollen dann bitte die Waren den Menschen befriedigen? Natürlich stellt der Kapitalismus die Notwendigkeiten der Spezies bereit, doch die Bedürfnisse weder der Gattung noch der Individuen werden hierbei wahrlich befriedigt in einem Sinne der Genügsamkeit und Sättigung: Waren befriedigen menschliche Bedürfnisse in etwa so, wie die Masturbation alleine vor einem Bildschirm das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Nähe befriedigt. Das ist Alles ausser eine Übersättigung, sondern eine Gesellschaft des Mangels trotz der immensen Produktion an Waren.
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Der moderne Anarchismus in Desert antwortet in dem er gerade in der Katastrophe selber die blosse Möglichkeit der Emanzipation erblickt. Als ob die Katastrophe eine Art einmaliges Ereignis, lediglich ein Intermezzo sei und nicht die herrschende Bewegung selber, wird prophezeit, die Welt nach der Katastrophe ermögliche endlich wieder Kampf und Befreiung, jedoch ist, und hier versteckt sich der grosse Wert von Desert, die Katastrophe selbst unabwendbar.
Desert propagiert somit eine zynische Umwertung: Desert versucht unsere Ohnmacht gegenüber der Katastrophe zu verschönern, während in den erwähnten zwei Appellen die Illusion einer Lösung der Katastrophe mitschwingt, in dem diese als weitere verwaltbare Krise getarnt wird. Obschon die Katastrophe somit doch nur perpetuieret wird.
Die gegenwärtige Situation erlaubt keinen Zustand nach der Katastrophe: Die Situation selbst ist gerade die Katastrophe. Die Situation selbst, die sich scheinbar ungestört perpetuiert, ist gerade die Katastrophe. Die Situation selbst hat einen totalen Charakter. Die Situation selbst erlaubt die Frage «Sozialismus oder Barbarei» nur als Scherz.
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Die offene Frage kann nur lauten: «Endet das Zeitalter des Menschen oder beginnt es erst?»
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Hoffentlich geht die herrschende Lebensform unter, wie sie es längst hätte sollen. Hoffentlich ist das Gewordene-Fleisch, welches aus dieser Lebensform emporsteigt ein weniger falsches.
31/08/2023